DER ANDERE – Vom konkreten Zorn zu verlieren
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Rudolf Inderst hat sich für Krautgaming Zeit genommen und ein sehr menschliches Thema behandelt, bei dem so mancher ein wenig Selbsterkenntnis erfahren dürfte… 

Der andere. Da ist er wieder. Und ich hasse ihn. Ich brülle. Jaule vor Zorn und schlage mir auf den Oberschenkel. Beide. Der Nachbar klopft. Nicht das erste Mal. Soll er ruhig. Was weiß der schon. Er fühlt nicht den Schmerz. Den Schmerz des Gedemütigten. Den Schmerz über die entwischte Beute. Die Enttäuschung, die wie ein kalter Stachel durch Mark, Bein und schließlich ins Herz fährt. Niemals wird sich die Ratio dieser kurzen, unbändigen Wut beugen. Der Verstand hat Pause und verkriecht sich vor dem übermenschlichen Zorn, der das Pad in der Hand dreht, wendet und quetscht, als sei es eine überreife Frucht, die es auslöschen gilt. Nein, nicht einfach auslöschen. Bestraft möge es sein. Bestraft für das, was sich zutrug. Bestraft für das ungerechte, unfaire Geschehen auf dem Bildschirm.

Der andere. Vor einer Sekunde stand er noch da. In der Ecke. Überrascht. Unfähig, sich zu bewegen. Ich hatte ihn erwischt. Hatte mich taktisch so geschickt bewegt, dass es keine Chance mehr für ihn gab. Aus dieser Position würde er nicht mehr lebendig herauskommen. Niemals. Ausgeschlossen. Schließlich steht er mit dem Rücken zu mir und meine Waffe ist bereits im Anschlag. Die Göttin der Jagd spielt heute in meinem Team. Der Finger ist nicht mehr lang am Abzug. Der Lauf ist etwa zwei bis drei Nanometer von seiner Schläfe entfernt. Ich bin dressed to kill und drücke a….

…und falle tot um. Falle was? Ich. Falle. Was? WAS? WAS ZU HÖLLE. WAS ZUR HÖLLE! DU AUSGEBURT EINER ***, NACHTS ZU *** SCHLEICHENDEN, MIT EINEM HOLZSCHEIT ***, MINDERBEMITTELTER ***. Was? WAS? Es wird lauter im Zimmer. Noch lauter. Ganz schön laut. Alles, was Einträge ins Klassenbuch gebracht oder blaue Briefe evoziert hätte, passiert verbal. Alles fällt mir aus dem Mund. Ich falle um. Getroffen? Geknechtet? Entehrt? Was ist passiert? Was zum *** IST DA EBEN PASSIERT? ISTDASWRKLIHPASIIT?!?!?!?

Den anderen. Ich nehme an, Ihr kennt ihn. Ihr kennt das doch, oder? Ich kann nicht der einzige Black-Ops-IIII-Spieler sein, dem das regelmäßig so geht. Es ist in etwa so, als ob Ihr 63.000 Tresore voller Atombomben und schwarzer Skorpione geworfen, 450 Magazine auf den einen Gegner abgefeuert habt, sowie über Euch die Luftunterstützung kreist und sie aus allen Rohren Tod und Pest hageln lässt. Dabei steht Euer Gegner bereits bis zur Hälfte in Treibsand, der aus Salzsäure besteht. Es trennt Euch also von dem Kill weniger als ein…und ich falle tot um.

Ungläubig weigert sich Euer Verstand zu akzeptieren, was da gerade geschehen ist. Diese Phase dauert etwa zwei bis drei Sekunden, bis sich die Rage durch Euren Körper frisst und ihr mit der blanken Faust den Stahlbeton der Hauswand so lange penetrieren wollt, bis der Nachbar verwundert zu Euch ins Wohnzimmer blicken kann. Aber, aber, sage ich Euch. Genug davon, ich will es Euch erklären. Ich will es Euch genauso erklären, wie es gerne vor mir selbst darlege (und das etwa 15 bis 20 Mal in einer Spielsession auf einer Map).

Der andere. Stellt Euch einfach vor, dass er, Euer Gegner, in letzter Sekunde einfach mit einer, ähm…Wasserpistole herumspielte und sich ein Tropfen Wasser löste. Natürlich zielt er dabei nicht auf Euch. Klar. Das zeigt die Wiederholung ja. Ihr könnt machen, was Ihr wollt – seine Wasserpistole wird Euch durch sinnloses Gefuchtel niederstrecken. Jedes. Mal. Egal, wie viele Kopftreffer Ihr mit der Abgesägten aus Nahdistanz schon gelandet habt, [Reichsadlaz88] hat die schnelleren Reaktionen, die nötige Intuition und die entscheidende Portion Glück, um Euch – zum zehnten Mal in dieser Runde – auszubooten und …NIEDERZUSTRECKEN. Es muss übrigens keine Wasserpistole sein. Zu Tode kitzeln. Hundebellen nachahmen. Alles. Einfach alles, war er macht (oder nicht macht) wird einen, und nur einzigen Ausgang haben: 0-1.

Aber das war es natürlich noch nicht. Ihr merkt Euch besser den Namen. [Reichsadlaz88] ist noch nicht fertig mit Euch und Eurem Leben. Er will Euch nicht demütigen, er will Euch brechen. Und gelingt ihm das? Natürlich gelingt ihm das. Denn er taucht wieder auf. Am Ende der Runde. In den Highlights. Eines davon seid Ihr dann. Ihr seid die Nummer 4, die niedergeschossen wird. Natürlich nicht mit den Jagdinstinkten eines Tigers. Weit gefehlt. [Reichsadlaz88]hat einfach das Schicksal auf seiner Seite und rutscht in einen Raum, in dem drei Eurer Teammitglieder auf einem Haufen stehen. Ja, und Ihr natürlich. Ihr seid ja…richtig, die bereits erwähnte Nummer 4. Und dann drückt er einfach ab. Und seine LMG legt los. #bulletstorm #highlights  

Ihr wisst freilich, dass das alles albern ist. Ihr wisst es und doch stellt Ihr es Euch lieber so vor, wie ich es gerade schilderte. So oder ein wenig anders. Wir wollen nicht akzeptieren, dass wir schlichtweg zu langsam sind, zu schlecht zielen oder uns taktisch ungeschickt den Hotspots aussetzen. Wir schieben es der Spielmechanik zu. Oder gar geheimen Cheatcodes, die es schließlich immer noch geben KÖNNTE. Könnte. Aber…lasst uns mal durchatmen und ehrlich sein. Weder das eigene Team trägt die Verantwortung noch die Coder des Spiels.

Es liegt an uns. Nicht am…ANDEREN.

Über Rudolf Inderst

Geboren 1978 in München, studierte Poltikwissenschaften in München und Kopenhagen. 2009 schloss er seine Promotion zur "Vergemeinschaftung in MMORPGs" in Amerikanischer Kulturgeschichte ab. Als freier Autor schreibt er für unterschiedliche Portale und Publikationen zu den Themen digitales Spiel und Film. Auch als Herausgeber diverser Game-Studies-Sammelbände ist er immer wieder umtriebig, spielt immer wieder Basketball und praktiziert freudvoll Krav Maga. Liebt Stanislaw Lem, Comics und satte B-Medien. Wird nervös, wenn er seinen Status in sozialen Netzwerken nicht zu jeder 30. Minute ändert. Trägt gerne Bart.

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