STATE OF MIND [Spoilerfreies Review + Entwickler-Interview]

STATE OF MIND [Spoilerfreies Review + Entwickler-Interview]

von am 14.08.2018 - 15:00
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State of mind ist das neue Werk von Martin Ganteföhr, das in Zusammenarbeit mit Daedalic entstanden ist. Worte wie Utopie,  Dystopie und Transhumanismus, sind die erzählerischen Grundpfeiler von State of mind und wie ich das Spiel erlebt habe, möchte ich euch hier berichten…

State of mind erscheint am 15. August für Xbox One, Playstation 4, PC und Nintendo Switch.

Ich fühle, also bin ich

State of mind leitet eigentlich recht schnell in ein einnehmendes Szenario ein. Wir spielen Richard Nolan, einen Reporter, der in einer zukünftigen Vision von Berlin lebt und einen Teil von seinem Gedächtnis, bei einem Unfall verloren hat. Zu allem Überfluss, scheinen seine Frau und auch sein Sohn verschwunden zu sein. Langsam bricht sein bisheriges Leben irgendwie in sich zusammen. Eine Ausgangsbasis für viele Story-Möglichkeiten. Ich war ehrlich überrascht, wie viel Charakter hier bereits in den ersten Spielminuten vermittelt wird.

Richard hat einen sehr eigenen Charakter und von einem klassischen Idealbild eines Helden, kann man hier keineswegs sprechen. Die Figur zeichnet sich durch viele Ecken und Kanten aus, was im Hinblick auf das Grafikdesign fast ebenso ironisch ist, wie die vielen liebevoll eingearbeitete Details in der Umgebung, die Richards Welt prägen und sein argwöhnisches und stellenweise resignierendes Gemüt unterstreichen. 

Er wirkt wie ein trotziges Opfer der Situation. Von seinem Leben irgendwie enttäuscht und vom Fortschritt langsam überholt. 

Augmented Reality und Virtual Reality gehören zum Alltag. Die Besiedelung des Mars, wird als der nächste große Schritt der Menschheit angekündigt. Roboter erleichtern nicht nur das Leben, sondern ersetzen den Menschen in seinen Alltagsgepflogenheiten. Richard lebt in einer komplett vernetzten Welt, in der Maschinen ihm fehlende Menschlichkeit unterstellen.

All diese Umstände und auch Richards persönliche Hintergrund-Dramen, lassen die Figur und sein Handeln authentisch und lebendig wirken. Eine Kunst, die vielen anderen Videospiel-Charakteren oftmals nicht zugute kommt und in vielen Fällen eher einem Abhandeln von Stereotypen ähnelt. State of mind macht in dieser Hinsicht allerdings einen exzellenten Job.

Hinzu kommen die grandiosen Synchronsprecher, von nahezu allen Charakteren. Zwar lohnt sich auch die englische Sprachausgabe, denn immerhin konnte man für Richard den Sprecher von Geralt (The Witcher 3) verpflichten, aber was die deutschen Sprecher hier abliefern, ist in mancher ‚Triple A‘-Produktion nicht in solch hoher Qualität wahrzunehmen. Ich wage zu behaupten, dass die Sprecher es mit dieser Leistung sogar hinbekommen hätten, Holzklötzen einen nachklingenden Charakter zu verleihen. Und schon wieder punktet State of mind auf ganzer Linie.

Ich glaube, was ich sehe

 
Während ich also in der Geschichte voranschreite, offenbart sich mir ein Erzählung, die von Verschwörung, Verrat, Widerstand und virtuellen Realitäten handelt. Besonders die Verknüpfung zwischen Richard und der virtuellen Welt nimmt interessante Züge an. 

Zusätzlich zieht die Spannung am meisten an, wenn man eine der anderen spielbaren Figuren steuert. Mit Richard gibt es insgesamt 6 spielbare Charaktere, die das Story-Geflecht mit ihren Handlungen und eigenen Kernmomenten füllen. 

Alles in der sogenannten Low-Poly Optik gehalten, deren Wirkung überraschend gut funktioniert. Auch wenn vielleicht Budgetgründe ebenfalls Bestandteil der Entscheidung waren, das Spiel in nicht allzu realitätsnaher Grafik zu präsentieren, ist das eigentliche Endprodukt aus künstlerischer Sicht ein Volltreffer. Das Design geht einher mit der Thematik des Spiels, in welcher Richard bemüht ist, Fragmente seiner Erinnerung wieder herzustellen. Die fragmentierte Optik trifft also auf das Charakterdesign der Hauptfigur und schließt eigentlich den erzählerischen Kreis.

Weiterhin ist es gelungen, den einzelnen Figuren mit diesem Grafikdesign genug individuelles Aussehen zu verpassen, um nicht in optischem Einheitsbrei zu versumpfen und auch die etwas begrenzte Mimik der Charaktere, reicht völlig aus um ein interessantes Maß an Emotionalität zu erschaffen. 

Die gleiche, treffende Wirkung erzielt auch die Gestaltung der Spielwelten. So wird die reale Welt meist in den dunklen Abendstunden dargestellt und unterstreicht die Bedrücktheit des Protagonisten. Das virtuelle Gegenstück City 5, wo wir auf Adam Newman treffen, zeigt uns eher Tag-Szenen und wird mit einer wärmeren Farbpalette visualisiert.

Eigentlich sind das keine bahnbrechenden Neuerungen der Inszenierung, aber sie passen einfach perfekt und schaffen den nötigen Kontrast, um die Stimmung der verknüpften Welten zu transportieren.

Von Freiheit und Klangwelten

State of mind ist ein Sci-Fi Thriller,  bei dem die Erzählung ganz klar im Vordergrund steht. Zwischen dem speziellen Grafik-Stil und der zunehmend vielschichtigen Story, gilt es auch ein glaubwürdiges Maß an spielerischer Freiheit und Abwechslung zu bieten.

Die Spielwelten liefern zu Beginn sehr begrenzten Bewegungsfreiraum, der aber nicht langweilig wird, wenn man versucht die Gegensätze und auch Parallelen zwischen virtueller und realer Welt zu ergründen.

Mit der Zeit eröffnet euch das Game neue Areale, die über eigenständige Sequenzen spielbar werden und es zu erforschen gilt. Neben alternativen Dialog-Optionen, bietet State of mind kleinere Rätsel, bei denen auch der Wechsel zwischen den aktiven Charakteren, ein Weg  zur Lösung einiger Situationen sein kann. Aber großes Rätselraten ist nicht der Kern des Spiels und das spürt man auch. Ebenso sieht es mit aktiv spielbarer Action aus. Dafür wäre die Steuerung der Figuren auch etwas zu unpräzise.

Abgesehen davon, fährt State of mind aber eine in sich stimmige Schiene, die mehr von ihren kleinen Entdeckungen und Interaktionsmöglichkeiten innerhalb der Spielwelt lebt und auch mit interessanten Wendungen innerhalb der Geschichte zu überzeugen weiß. So lässt uns das Spiel auch wirklich Zeit, in die unterschiedlichen Umgebungen einzutauchen und nebenbei interessante Themen zu reflektieren, wie der tatsächlichen Definition des Individuums, seiner “Menschlichkeit“ und mit wie viel Bestimmtheit wir unsere Realitäten formen. Dabei wirkt jeder Story-Abschnitt und jede Figur relevant und fügt neue Puzzle-Teile ins Gesamtbild ein.

Besonders die Idee der allgegenwärtigen Augmented Reality ist ein faszinierender und zeitgleich bedrohlicher Gedanke. Jeder Gegenstand und auch jede Person ist erfasst worden. Nahezu jede Information wurde nachhaltig gespeichert. So wird die Welt zu einem Schauplatz, in dem der Mensch sich selbst zur wandelnden Datenbank macht. Eine ähnlich zweiseitige Medaille, wie sie schon in Steven Spielbergs Minority Report zu sehen war. Spielerisch gut eingegliedert, über die Option der direkten Informationsabfrage, bevor man mit einem Objekt oder einer Figur interagiert. Der ‚gläserne Mensch‘ in Reinform.

Der tragende Soundtrack tut hier letztlich sein übriges. Mit der Cyberpunk-Kulisse, die State of mind im klassischen Sinn bedient, hören wir viele gut akzentuierte Stücke. Stellenweise wecken einige Werke sogar Erinnerungen an filmische Genre-Verwandschaft, wie Blade Runner 2049 und Tron Legacy. In ruhigen Passagen gab es Momente, die mich stilistisch sogar ein wenig an den Klassiker Dune (1984/David Lynch) erinnerten.

Und trotz der kleinen Vergleiche, die ich erwähnen kann, ist der Soundtrack zu State of mind, eine sehr selbstständige Untermalung des Geschehens, auf die ich mich auch schon abseits des Spiels freue. Laut Angabe von Daedalic dürft ihr die Spielmusik nämlich für die unterschiedlichsten digitalen Plattformen erwarten. Dazu zählen ITunes, Spotify und auch Amazon Music. 

FRAGEN AN MARTIN GANTEFÖHR

Daedalic haben uns die Möglichkeit verschafft, ein paar Fragen an Martin Ganteföhr, den kreativen Kopf hinter State of mind, zu stellen. Diese Gelegenheit haben wir natürlich genutzt:

Daniel: Findest du es nicht fast ein wenig ironisch, deine Idee von State of mind in ein spielerisches Medium eingebettet zu haben, welches den Weg zur Digitalisierung mitdefiniert?

Martin: Doch, das sehe ich natürlich. Ich habe heute einen Blogpost für Reddit veröffentlicht, das genau diese Meta-Thematik behandelt. Der Titel lautet „I uploaded Richard Nolan’s Mind to a Video Game“

[HIER geht es zum Blogpost]

Daniel: Wo siehst du die größte Stärke des Mediums für deine Geschichte?

Martin: Ich würde die Frage umkehren und zurückgeben: Wo denn anders, wenn nicht in einer virtuellen Welt, also einem Videogame, sollte von der Virtualität erzählt werden? Ein digitales Spiel ist für eine solche Geschichte gewissermaßen das natürliche Habitat. Und dass die Perspektive dabei gewissermaßen doppelt verschiebbar ist (– auch die erzählte „reale“ Welt Richard Nolans ist ja rein virtuell, und fiktional ist sie sowieso –), finde ich besonders reizvoll.

Daniel: Da ich selbst gerne Songtexte und Kurzgeschichten schreibe, weiß ich nur zu gut, dass man sich in vielen Einzelfacetten seiner Werke wiederfindet. Wie viel Martin Ganteföhr findet sich in State of mind? Oder anders formuliert: Wie viel von dir selbst, hast du für den charakterisierenden Upload zugelassen?

Martin: Generell würde ich immer sagen, es gibt schon einen fundamentalen Unterschied zwischen einem Autor und seiner Figur. (Wäre das anders, müssten wir alle ja auch stark hoffen, den Autor von „American Psycho“ niemals persönlich zu treffen…)

Auf der anderen Seite glaube ich, dass Dinge aus dem persönlichen Erfahrungshorizont sehr gutes Material sein können. Aber eben nur, wenn man es schafft, sie über „Liebes-Tagebuch“-Niveau hinauszuheben und in etwas Größeres, Gültigeres zu verwandeln. Ich bin immer der allergrößte Kritiker meiner eigenen Arbeit, und sie ist im Gesamtbild ja auch immer irgendwie… problematisch. Aber wenn es Szenen, Elemente, oder eben auch Figuren gibt, die ich selbst gelungen finden, dann oft deswegen, weil ich aus ganz persönlicher Erfahrung weiß: So kann man sich fühlen, so kann man sein, das ist denkbar, das ist „wahr“. 

Daniel: State of mind beschreibt ein System, in dem die Begrifflichkeiten Utopie und Dystopie miteinander verschmelzen. Zeitgleich beschäftigt sich die Geschichte stark mit dem Thema Transhumanismus. Wie betrachtest du die heutige Gesellschaft, im Hinblick auf deine Vision der Zukunft und vor dem Hintergrund deiner Recherchen, die du für deine Geschichte durchgeführt hast?

Martin: Dass die ehemalige Faktenrealität — inzwischen heißt sie, glaube ich, “shared reality” — sich an allen Ecken und Enden in Auflösung befindet, wissen oder spüren wir alle. Immerhin ist inzwischen die hochgradig alternative Wirklichkeit eines Twitter-Trolls bestimmend für die Weltpolitik geworden. Das sollte man nicht so leicht als Kapriole der Geschichte abschütteln.

Dass im Silicon Valley aber gleichzeitig ein bedingungsloser Techno-Optimismus und eine gigantische Furcht vor der Apokalypse möglich sind, finde ich schon bemerkenswert. Die Technologie überquert heute die Grenze zum Spirituellen, zur Religion — komplett mit Paradiesversprechen und Höllenbefürchtungen.

Zu meinen Recherchen habe ich übrigens auszugweise einige Quellen auf Reddit gepostet [LINK]. Da kann man sich ein Bild verschaffen, was im Herzen unserer mächtigsten Konzerne gedacht und geplant wird. Wir werden hunderte Spiele, Bücher, Filme brauchen, um das zu verarbeiten. Ich glaube, wir sollten das anpacken, jetzt ist die Zeit. 🙂

 

Wir möchten uns an dieser Stelle nochmal sehr bei Martin Ganteföhr und Daedalic bedanken! (Krautgaming/Daniel)

Fazit

State of mind

von am 14.08.2018

State of mind ist ein stark storybasiertes Spiel und zieht in dieser Hinsicht sämtliche Register. Soundtrack, Synchronisation, Charakterdarstellung und Erzählweise sind über jeden Zweifel erhaben. Der Titel konzentriert sich auf wesentliche Aspekte, die das Geschehen auszeichnen sollen und vertieft diese stilistisch. State of mind ist ein erfrischendes Highlight des Jahres 2018 und auch die bislang größte Überraschung. Daedalic beweisen hier, warum der Begriff ‚Triple A‘ komplett überbewertet wird. 

Grafik – 87

Sound – 96

Gameplay – 83

Spieldesign/Spielwelt – 87

Spielspaß/Atmosphäre – 95

 

 
TIPP: Kommt nicht auf die Idee eure Speicherstände zu löschen, denn besonders zum inhaltlichen Kontext des Spiels passend, werdet ihr nach Abschluss von State of mind feststellen, dass diese Gold wert sind 😉

Über Daniel Machut

Ich bin Chefredakteur bei KRAUTGAMING ! Aufgewachsen in der Steinzeit des Gaming, bin ich noch heute unterwegs in den unterschiedlichsten Welten. Hyrule, Rapture, Eos, das viktorianische London, Sondereinsätze auf der ganzen Welt und selbst die dunklen Tiefen des Weltraums habe ich nicht gescheut. Hier sollt ihr mehr von meinen Reisen in den virtuellen Weiten erfahren...

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