In den letzten Jahren waren Blutsauger kein wirklich großes Thema in der Welt der Videospiele. Stattdessen fluteten eher Zombiehorden die heimischen Spiel-Systeme. Dontnod Entertainment haben die dunklen Gestalten nun aus ihrem Tiefschlaf befreit und wir durften unsere blutdurstigen Zähne in das Spiel stoßen. Wie nahrhaft ich den neuen Titel wirklich fand, möchte ich euch hier berichten…
Der Weg zur Dunkelheit
Eigentlich hätte das Spiel bereits im November 2017 erscheinen sollen, doch Dontnod Entertainment meldeten im September 2017 an, dass das Spiel erst im Frühjahr 2018 veröffentlicht wird, um entsprechende Fehler auszubessern und die Qualität des Spiels anzuheben. Eine verzeihliche Entscheidung, wenn man bedenkt, wie viel Lob Dontnod bereits für Life is strange und Remember Me abstauben konnten.
Das zuvor gezeigte Material, in Form von Artworks und ersten Gameplay-Videos, ließ die Spannung auf VAMPYR jedenfalls ordentlich steigen.
Bereits 2016 stiegen bei vielen Interessierten und ‚World of Darkness‘-Fans bereits Hoffnungen auf ein modernes Vampire – The Masquerade. Doch diese Erwartungshaltung fand ich persönlich etwas überzogen. Die Komplexität des gezeigten Materials lag nämlich vergleichsweise weniger in der Interaktion innerhalb der gesamten Welt und der damit verbundenen Mythologie, als doch vermehrt auf der Charakterentwicklung der eigenen Figur und den damit verbundenen Konsequenzen.
Sollte dieser Umstand die Erwartungshaltung also schmälern?! Ich antworte mit einem klaren NEIN.
Wenn ich ein neues Vampire – The Masquerade haben wollte, würde ich mir auch eben dieses wünschen. Was natürlich auch einen komplett anderen Maßstab für die Bewertung des Titels bedeuten und erfordern würde. Vampyr ist ein jungfräulicher Titel, der in meinen Augen keinem “geistigen“ Vorgänger gerecht werden muss.
Düsteres Erwachen
Ich bin kraftlos und ohne jede Orientierung, als ich panisch aufwache und feststellen muss, dass ich in ein Massengrab gebettet wurde. Der Gestank von verwesendem Fleisch lässt Ekel und Angst in mir steigen. Ich versuche mich mit aller verbliebenen Kraft aus dem Leichenberg zu ziehen und schaffe es letztlich auch. Doch irgendetwas ist anders mit mir. Nur schemenhaft erkenne ich eine Gestalt. Ich… ich… wittere ihr Blut. Die Gestalt hält mich fest. Ich werde umarmt. Doch was dann geschieht, habe ich nicht unter Kontrolle…
Die Eröffnungssequenz von Vampyr ist schon sehr stimmungsvoll und bereits im Hauptmenü habe ich mir gesagt, dass ich unbedingt schauen muss, wo es den Soundtrack gibt.
Relativ schnell wird mir bei Vampyr klar, dass das Spiel ganz andere Züge annimmt, als ursprünglich erwartet. Dontnod haben eine Geschichte zu erzählen und das düster gehaltene London wird für uns nicht einfach zur Schlachtplatte. Es geht weniger darum, selbst zu entscheiden, wie gut oder böse der Hauptcharakter wird. Eher stellt sich die Frage, wie viel ich bereit bin, für das Erreichen meiner Ziele zu opfern. Wie viel Menschlichkeit bin ich bereit zu geben? Wen kann ich retten und das vielleicht sogar vor mir selbst?
Spielerisch schnürt Vampyr das Paket anfangs unerwartet eng. Doch schon nach wenigen Stunden, darf ich erstmals feststellen, warum das eindeutig die beste Variante war. Das Stichwort lautet “Charaktertiefe“.
Hier geht es aber nicht allein um Jonathan als Protagonisten, sondern auch um NPCs. So unterscheidet das Spiel zwischen Handlungscharakteren und simplen Gegnern. Den Kern des Spiels machen natürlich die Handlungscharaktere aus.
In jedem Gebiet der Stadt, gibt es hiervon eine limitierte Anzahl, die stellenweise sogar schwer miteinander verknüpft sind. Dieser Umstand stellt sich in der Interaktion mit den Figuren heraus. Anders als in anderen Rollen- und Open World-Spielen, erhaltet ihr nicht nur Eindrücke und Aufgaben, die auf einzelne Figuren zugeschnitten sind.
Um euch das spüren zu lassen, arbeiteten die Entwickler mit einem einfachen Kniff, der aber raffiniert umgesetzt wurde. Als neugeborener Vampir, müsst ihr selbstverständlich erstmal an Stärke gewinnen. Das gilt auch für die Fähigkeit, die handlungsrelevanten Figuren mit hypnotischer Wirkung in dunkle Ecken zu treiben, um ihren roten Lebenssaft auszusaugen und somit wertvolle EP zu erhalten. Aber blinde Befriedigung des Blutdurstes ist hier anfangs nicht drin und dank einer zu überwindenden, spielerischen Hürde auch nicht sinnvoll.
Das Opfer der Heilung
Während ich also in den ersten Zügen mit den Charakteren in Kontakt trete und die passenden Verbindungen entdecke, zeigt sich ein weiteres Gameplay-Element, dass leidvoll und verführerisch zugleich ist. Denn storybezogene Charaktere sind, wie bereits erwähnt, die größte Quelle für eure Erfahrungspunkte. Diese sind aber auch steigerbar, wenn ihr Informationen zu der Person gewinnt. Die Recherche hierzu betreibt ihr aber nicht nur durch den simplen Dialog mit der betreffenden Figur, sondern auch durch andere Charaktere, die sich im entsprechenden Handlungskreis bewegen, oder durch Fundstücke mit Hinweisen zur Person.
Noch bevor ihr wirklich aktiv eine Entscheidung über Leben oder Tod treffen müsst, lässt euch Vampyr ordentlich Zeit, die Charaktere kennen zu lernen. Dabei durfte ich feststellen, dass die Wahl besonders zu Beginn oft nicht nur schwer war. Anfangs endete es darin, dass ich einfach niemanden opfern wollte. Eine Dramatik, die sich auch in der Geschichte gut eingegliedert findet.
Schließlich ist Jonathan Reid ein Arzt und fühlt sich eigentlich der Rettung seiner Mitmenschen verpflichtet. Das Spiel schafft aber ein kleines Geflecht aus Eindrücken um die NPCs, welches kein hundertprozentiges Schwarz/Weiss-Denken zulässt. Dadurch entstehen lebendige Situationen, welche selbst den NPCs ein gewisses Maß an Tiefe verleiht.
Und als wäre der moralische Aspekt nicht schon schwierig genug abzuwägen, gilt es auch noch die Population der Bezirke aufrecht zu erhalten. Solltet ihr das nämlich nicht schaffen, könnte es passieren, dass ihr den Bezirk an die Kreaturen der Dunkelheit verliert. Dabei solltet ihr eben auch eurer beruflichen Verpflichtung nachkommen, denn erkrankte Menschen schaden dem Status eurer Bezirke ebenfalls.
Diese Mechanik lässt natürlich Spielraum für die unterschiedlichsten Spielerlebnisse und auch wenn wir die folgende Herangehensweise nicht getestet haben, soll es laut Dontnod auch möglich sein, das Game kompromisslos zu absolvieren, selbst wenn ihr dabei alle Bezirke verliert.
Der Haupthandlungsstrang bietet zudem nicht nur eine spannende Grundstory, sondern steuert euch auch auf maßgebliche Entscheidungen zu, ohne dabei den Faden zu verlieren. Und immer mit direktem Einfluss auf die Spielwelt.
Finstere Macht
Das Skillsystem von Vampyr ist generell sehr übersichtlich gestaltet. Dabei greift ihr, wie im klassischen Rollenspiel, auf passive und aktive Skillzweige zu. So könnt ihr zum Beispiel eure Lebensenergie, die Ausdauer und auch die nutzbaren Blutreserven ausdehnen und zeitgleich aktive Fähigkeiten erlernen und diese in untergeordneten Zweigen weiter ausbauen.
Hier sind natürlich wieder euer Spielstil, wie auch eure Entscheidungen, gefragt. Wer bereit ist virtuelles Menschenleben und dazugehörige Bezirke zu opfern, wird zwar schnell mächtig, wird aber weniger der interessanten Charakteredetails entdecken und eventuelle Questeinbußen in Kauf nehmen müssen.
Außerdem kann euch etwas Geduld auch nützlich sein. Je mehr ihr über entsprechende Figuren in Erfahrung bringt, desto höher können die EP für das Aussaugen der Charaktere ausfallen.
Durch dieses eigenwillige Konzept, kamen unser Dominic (der das Game parallel gespielt hat) und meine Wenigkeit, auf einen witzigen Vergleich. Es fühlt sich ein wenig an, wie das selektive Verhalten von Hannibal Lecter, dem Kannibalen aus der bekannten Buchreihe von Thomas Harris, welcher zuletzt in einer Serie von Bryan Fuller für Aufsehen sorgte. Und da es sich hierbei um eine meiner Lieblingsserien handelt, fiel mir eine witzige Ähnlichkeit in der Covergestaltung von Staffel 3 zu Vampyr auf.
Die Dialoge und auch die Freischaltung neuer Gesprächsoptionen, sind interessant eingebunden. Es entsteht wirklich der Eindruck eines sozialen Netzwerkes, innerhalb der offenen Welt. Aber ihr könnt in Dialogen auch scheitern.
Selbst wenn ihr genügend Informationen über euren Gesprächspartner gefunden habt, kann es passieren, dass ihr mit fehlendem Feingefühl für das Gespräch, trotzdem auf die letzte EP-Würze der Figur verzichten müsst. Und das schönste daran ist, dass ihr wirklich mit den Entscheidungen und Äußerungen die ihr von euch gebt, leben müsst.
Das liegt auch daran, weil nicht wahllos Charaktere neu ins Geschehen eingebunden werden. Denn wie ich bereits sagte, gibt es nur eine festgelegte Anzahl an Personen, die ihr pflegen und auskundschaften könnt.
Es wird Blut fliEßEN
Abseits der Handlungsstränge trefft ihr auf unterschiedliche Gegnertypen. Menschliche Vampirjäger und niedere Vampirkreaturen, die mehr instinktiv handeln, pflastern euren Weg.
Der kompromisslose Kampf gegen die menschlichen Gegner, könnte im Zusammenhang mit den Handlungsfiguren als widersprüchlich empfunden werden. Doch auch hier wird, mit der Fähigkeit als Schatten umher zu wandern, eine spielerische Alternative geboten, die größtenteils konsequentes Handeln mit der menschlichen Umgebung ermöglicht. Zwar wäre ein ausgeklügeltes Stealth-System vielleicht die elegantere Variante gewesen, aber wirklich störend fällt die begrenzte Möglichkeit, die Gegner zu umgehen, nicht auf.
Die Kämpfe selbst fallen, je nach EP-Verteilung, recht intuitiv aus. Da Vampyr ebenfalls mit einem Level- beziehungsweise Stufen-System arbeitet, könnt ihr auch ungefähr abschätzen, wie gefährlich eine Kampfsituation für euch wird. So ist ein Kampf mit einer Kreatur, die euch 10 Stufen überlegen ist, durchaus machbar. Sollten sich allerdings noch weitere höherrangige Wesen in den Kampf einmischen, kann es schon mal brenzlig werden.
Auch die richtige Kombination aus Waffen und deren Eigenschaften, die ihr via Werkbank ausbauen könnt, kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Ich persönlich fand es immer praktisch, wenn ich Gegenstände für Jonathan ausgerüstet hatte, durch deren Einsatz es möglich war, entweder direkt einen Biss zu landen, der meine Blutreserven auffüllt, oder Waffen zu nutzen, die einen ähnlichen Effekt bewirken konnten. Schließlich verbrauchen spezielle Vampir-Fähigkeiten, einen Teil dieser Reserven. Das gilt nicht nur für Angriffstechniken, sondern auch für eure Heilungsfähigkeit.
Man kann außerdem ultimative Angriffe für Jonathan freischalten, sobald man die nötige Stufe erreicht hat. Der Umgang hiermit muss auch bedacht sein. Sie verbrauchen zwar kein Blut, haben aber dafür eine sehr hohe Abklingzeit, bis sie wieder eingesetzt werden können.
Im Kampfgeschehen mit mehreren Gegnern, sollte man das gezielte Anvisieren nutzen, da man sonst schnell die Übersicht verlieren kann und spezielle Angriffe weitaus präziser platziert werden können.
Der Blick durch die Finsternis
Optisch fällt es mir ehrlich gesagt etwas schwerer, eine eindeutige Meinung zu Vampyr abzugeben. Die düstere Architektur der Stadtbezirke ist allgemein sehr gelungen und mir gefällt auch das verschachtelte Design der begehbaren Bereiche.
Die Open World ist nicht so riesig, was auch kein schlechter Zug ist, wenn man bedenkt, dass viele Spiele schnell an Intensität der Geschichte verloren haben, bloß um im Gegenzug eine gewaltige Spielwelt präsentieren zu können.
Trotzdem wirken die Grafiken manchmal sehr altbacken und besonders die Gesichtsanimationen der Figuren, wirken oftmals starr und leblos.
Dieser Makel wird zum Glück durch die gelungene, englische Synchronisation wieder ausgeglichen. Hier wurde ein sehr guter Job gemacht und was an optischer Emotionalität nicht gegeben ist, funktioniert dafür bei den Sprechern perfekt.
Selbiges gilt auch für den Soundtrack, der mit intensiv inszenierten Streichern durch das Geschehen führt und eine einnehmende Klangkulisse schafft. Manchmal kombinierte man im selben Stück, die mysthische Unbehaglichkeit der Spielwelt, mit bedrohlich anmutenden Klängen, welche an das unaufhaltsame Grauen eines jagenden Raubtiers erinnern.
So weiß die Spielwelt trotzdem zu fesseln, auch wenn bei der Tiefenwirkung und einigen Details durchaus mehr Potenzial gewesen wäre.
Fazit
VAMPYR ist für mich einer der unterhaltsamsten und spannendsten Titel des Jahres und im laufenden Jahr bislang auch die größte Überraschung. Das eigene Handeln hat spürbare Konsequenzen und nicht nur einmal habe ich es nach einer Entscheidung, mit Gewissensbissen zu tun gehabt. Selbst wenn technisch noch ein paar Dinge besser hätten aussehen können, überzeugen Story und innovatives Gameplay. Durch die unterschiedlichen Möglichkeiten, das Spiel zu absolvieren, ist hier sogar ein hoher Wiederspielbarkeitswert gegeben, in dem man sich neue Ziele setzen kann und seine Geschichte völlig neu gestaltet. Eine echte Empfehlung!
Einzelwertungen in Kategorien:
Grafik: 78
Sound: 89
Gameplay: 89
Spieldesign/Spielwelt: 87
Spielspaß/Atmosphäre: 90
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