Papiere zweiter Klasse
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Diskriminierung, Papierkrieg und struktureller Rassismus: Als Kind einer vor dem Krieg geflohenen Mutter hat man es nicht immer leicht. Das lässt mich auch PAPERS, PLEASE spüren und erleben. Kein schönes, aber vielleicht ein nötiges Erlebnis.

August 2013: Der Grenzpostensimulator PAPERS, PLEASE erscheint, gerade bin ich 19 geworden. Meine Mutter ist vor dem Krieg in Jugoslawien geflohen, meinte Eltern lassen sich scheiden, als ich sechs bin. Meinen Vater sehe ich zuletzt vor mehreren Jahren, Alimente will er immer noch keine zahlen. Das Geld von ihm, das meine alleinerziehende Mutter stark entlastet hätte, bleibt aus. Stattdessen jahrelanger Papierkrieg mit den Behörden. Einmal passt dieses Papier nicht. Dann fehlt dieser Bescheid. Akten in kroatischer Sprache können schon mal gar nicht angenommen werden. Dazu noch eine Prise Rassismus, wenn Tiroler Sachbearbeiter_innen versuchen, mit meiner Mutter oder mir in stark dialektal gefärbtem und falschem Hochdeutsch zu sprechen.

Literatur hat mich in meiner Kindheit nicht interessiert. Filme waren okay, aber brennen tat ich dafür auch nicht unbedingt. Kunst war mir egal. Erst später, viel später, begann ich mich für all dies zu interessieren. Aber Spiele! Die mag ich seit meiner frühen Kindheit. Nun also PAPERS, PLEASE. Flucht. Rassismus. Diskriminierung. Papierkrieg. Mein Leben.

Der erste Tag

Ich starte PAPERS, PLEASE auf meinem alten Laptop, der das Spiel unter größten Anstrengungen zum Laufen bringt und laut vor sich hin röchelt. Ein paar Minuten später bin ich Dejan, der Grenzkontrolleur von glorious Arstotzka. Meine Aufgabe: jeden Fehler in den Papieren der Grenzüberschreitenden zu ahnden. Die ersten Kontrollen plätschern dann so dahin: Ausweis kontrollieren, Stempel drauf, Ausweis mit einer lässigen Mausbewegung rüberschieben. Fertig.

Doch dann kommt Frau G. Sie ist schwanger und will zu ihrem Mann. Beide sind aus ihrer Heimat geflohen. Der Krieg hat sich dazu gezwungen. Während Frau G. mir von ihrem kurz bevorstehenden Geburtstermin erzählt, werfe ich einen Block auf ihre Papiere. Ein negativer Asylbescheid liegt bei. Als ich den „Abgelehnt“-Stempel greifen will, bittet mich Frau G., sie doch bitte nach Arstotzka zu lassen. Das kann ich aber nicht tun, genauer: Die da oben lassen mich es nicht tun. Und so schicke ich Frau G. weg. Mit ihrem runden Bauch verlässt sich den Grenzposten.

Meine Eltern waren auch Flüchtlinge. Eines Tages versuchen sie es in einem Asylwerber_innenheim. Dort wollen sie nicht lange bleiben, aufgrund der schlimmen Zustände, weshalb sie schon nach einem Tag Reißaus nahmen. Stattdessen probierten sie auf anderen Wegen in Österreich zu bleiben, nicht immer legal, was meines Erachtens nach einer der Gründe ist, weshalb ich diesen Texten überhaupt schreiben kann. Das Asylverfahren hätte aufgrund der Länge so einiges verkompliziert und Österreich produziert positive Asylbescheide nicht gerade am Fließband. Hätte man meine Eltern auf dieselbe Weise weggeschickt wie ich gerade Frau G., dann wäre vieles anderes gekommen.

Selten, eigentlich nie spreche ich mit meiner Mutter über den Krieg. Über ihre Flucht. Über die anfänglichen Probleme in Österreich. Ich will diese Geschichten nicht kennen. Doch PAPERS, PLEASE bringt mich ins Grübeln. Ich sollte mal mit meiner Mutter über ihre Erlebnisse reden.

Der zweite Tag

Am nächsten Morgen allerdings sind Ferien und so starte ich eine neue Runde PAPERS, PLEASE. Der zweite Tag an der Grenze beginnt und der Grenzkontrolleur Dejan ist wieder putzmunter unterwegs. Bis etwas passiert.

Die ersten Kontrollen gehen ohne Probleme über die Bühne. Alles wie gehabt: Ausweis kontrollieren, Stempel drauf, Ausweis mit einer lässigen Mausbewegung rüberschieben. Fertig. Kurz vor Ende meiner Schicht wird dann plötzlich ein Brandsatz auf den Grenzposten geworfen. Die anstehenden Sicherheitskräfte können den Attentäter erst nach seiner Tat überwältigen. Das Grenzsystem ist gewalttätig und provoziert offenbar Gegengewalt.

Ich beende das Spiel wieder für den heutigen Tag. Morgen muss ich ans Gericht, einen Antrag auf Gehaltsexekution der ausbleibenden Alimente meines Vaters stellen. Mittlerweile schuldet er mir knapp 20.000 Euro. Ich Bett wälze ich mich hin und her. PAPERS, PLEASE schwirrt mir im Kopf herum.

Der dritte Tag

Der Wecker klingelt um acht Uhr, sich sammle alle Papiere ein, um 8 Uhr 42 stehe ich im Gericht bei meiner Sachbearbeiterin. Wir kennen uns schon, meine Mutter kennt sie noch viel länger. Jetzt allerdings bin ich schon über 18 Jahre alt, also muss ich diese Sache regeln. Als Erstes stelle ich die Frage, ob mir der Staat Österreich nicht einen Alimentenvorschuss leisten muss, immerhin bin ich nun Angehöriger eines EU-Mitgliedsstaates. Dafür bin ich zu alt, erklärt mir Frau S. Ein Jahr und einen Monat zu früh geboren. Wäre ich noch unter 18, ich hätte einen Anspruch darauf. Gut, dann ist das halt so. Eine erneute Gehaltsexekution meines Vaters kann ich ja dennoch beantragen. Dafür gebe ich Frau S. meine Papiere. Anscheinend befindet sich mein Vater derzeit wieder in Österreich, nachdem er zuvor einige Jahre in Serbien verbracht hat. Dort war eine Exekution nicht möglich, jetzt haben wir eine gute Chance. Allerdings gibt es ein Problem: Die Forderungszahlen stimmen nicht mehr. Sie sind veraltet. Ich muss die aktuellen Zahlen haben, sonst ist eine Antragstellung leider nicht möglich. Offenbar fehlt der letzte Monat. Ich muss alle Papiere zusammenbringen, damit der Antrag so durchgehen kann. In der dafür zuständigen Stelle ist allerdings niemand da. Zwei Wochen müsste ich mindestens auf die Aushändigung der aktuellen Papiere warten. Bis dahin ist mein Vater sicherlich wieder außerhalb Österreichs.

Enttäuscht gehe ich nach Hause und verwandle mich wieder in den Grenzkontrolleur Dejan. Meine Schicht beginnt wie immer. Personen ins Land lassen. Personen nicht ins Land lassen. Alles läuft reibungslos. Ich kenne das ja jetzt schon: Ausweis kontrollieren, Stempel drauf, Ausweis mit einer lässigen Mausbewegung rüberschieben. Fertig. So verläuft der Tag. Nur noch eine Person, dann ist Feiertag. Herr L. steht vor mir. Er würde gerne nach Arstotzka, seine Familie lebt dort, Mutter und Bruder freuen sich schon auf seinen Besuch. Gerade sind seine einzigen Tage im Jahr, in denen er die lange Reise auf sich nehmen kann. Ansonsten ruft ja immerzu die Arbeit. Ich kenne diese Situation auch, wie ich ihm erkläre, denn jeden Tag wollen Leute nach Arstotzka. Jeden Tag will die Grenze kontrolliert werden. Ich verstehe mich gut mit Herrn. L. Doch eines seiner Papiere, sein Personalausweis, ist seit dem gestrigen Tage abgelaufen. So kann ich ihn leider nicht ins Land lassen, es herrscht nämlich Personalausweispflicht für alle Ausländer_innen. Ich verweise ihn also des Grenzpostens und bitte sogar vielmals um Entschuldigung. Herr L. blickt mich entgeistert an und wirft mir unreflektierten und willenlosen Gehorsam vor. Er fragt mich, wie ich mit dieser Schuld leben kann, und ob es mich wirklich ruhig schlafen lässt, wenn ich einfach die da oben verantwortlich mache.

Realität der Willkürlichkeit

Ich weiß es nicht. Im Spiel nicht. Im realen Leben nicht. Und ich habe genug. Drei Tage sind in PAPERS, PLEASE vergangen, effektiv vielleicht zwei Stunden Spielzeit. Gefühlt viel länger. Das Spiel hat mich gebrochen. Was als kleiner Anstoß für die Reflexionen über das eigene Dasein als Kind einer geflohenen Mutter begann, entwickelte sich zu einer emotionalen Lawine, deren Rausch ich nicht gewachsen bin. Das Spiel muss weg und wird deinstalliert. Seitdem habe ich PAPERS, PLEASE nie wieder angefasst.

Wenn für manche PAPERS, PLEASE den Horror der Willkürlichkeit erlebbar macht, war, ist und bleibt dieser Horror für mich und meine Familie Realität. Ich will nicht sagen, dass es PAPERS, PLEASE gebraucht hat, damit mir all diese Probleme klar werden, aber PAPERS, PLEASE hat eine Blockade aufgebrochen. Eine Blockade, hinter die ich die Gedanken und Probleme gepackt hatte und hinter der ich alles verstaute, woran ich nicht denken wollte. Bis heute habe ich mit meiner Mutter nicht über den Krieg und ihre Flucht gesprochen. Dafür bin ich noch nicht bereit. Aber immerhin bin ich jetzt bereit, mich mit diesem Thema in Textform auseinanderzusetzen. Dafür habe ich PAPERS, PLEASE gebraucht. Um meine eigene Geschichte erstmals verstehen zu können.

September 2015: Deutschland kündigt an, an der Grenze zu Österreich wieder Kontrollen einführen zu wollen. Glorious Arstotzka ist plötzlich wieder ganz nah.

Quelle: (c) WASD Magazin, 08/15 – www.wasd-magazin.de

Über Dejan Lukovic

Dejan ist Redakteur bei Krautgaming. In dieser Tätigkeit erblickten schon die ein oder anderen Artikel das Licht der Welt, die von einfachen News bis hin zu Reviews reichen. Derzeit studiert Dejan Germanistik an der Universität Innsbruck, um sich im Anschluss einen Master der Medien, Gender Studies oder Film Studies zu erarbeiten.

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