26 Games: Bergsteigen in Tyria

26 Games: Bergsteigen in Tyria

von am 20.12.2013 - 10:12
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Manche Welten sind zu schön, um sie nur zu lesen. Das Abenteuer wartet auch abseits der Pfade zum Schicksalsberg, in den vielen kleinen Geschichten am Wegrand; darum erfand der Mensch das Rollenspiel. Zuerst noch mit Stift und Papier, dann vor dem Bildschirm, und dann in komplexen Online-Reichen, in denen Millionen zusammen eine Welt erlebten. Bald aber schlich die Gier in die Spieler: Das Abenteuer schwand vor der Jagd nach dem besseren Schwert. Zahlen und Systeme waren wichtiger als Wörter. Doch seit letztem Jahr gibt es Hoffnung.

 

Evari Frostbirke ist ein Entdecker – sein Ziel ist es, die Welt und ihre Wunder zu sehen. Gold und Beute interessieren ihn nicht, obwohl er eine neue Flinte braucht. Aber auf der Bergspitze soll eine wunderbare Aussicht auf die Ebene liegen. So erzählte man es ihm – seitdem reizt Evari dieser weiße Fleck auf seiner Karte mehr als jede Münze der Welt.

Er sitzt auf einem Felsvorsprung und überlegt. Den nächsten Sprung muss er gut planen, wenn er nicht wieder Hunderte Meter an der Felskante entlang in die Tiefe rutschen will. Dabei liegt die Spitze so nahe – sein Herz klopft. Im Wind flattern die Fetzen seines Mantels. Evari holt tief Luft, geht ein paar Schritte zurück, läuft und springt. Von der Kante bröckeln kleine Steine in die Tiefe, es hallt, wenn sie auf die Felswand schlagen. In Evaris Rucksack klappern die vielen mechanischen Geräte, an denen er bastelt – auch das hallt laut durch die Luft.

Dann ist ein Moment Stille in der Luft, bis Evari seinen Fuß auf den nächsten Vorsprung setzt und in die Knie geht, um den Schwung abzufedern. Er atmet auf, holt tief Luft. Sein Herz klopft noch stärker, aber nur, weil er es geschafft hat – er ist fast da! Er hievt seinen Körper auf den flachen Pfad, der zum Gipfel führt, und wankt die letzten Schritte.

Ein Schritt weiter

Evolution kommt in kleinen Schritten – Guild Wars 2 ist da ein gutes Beispiel für. Im Kern stecken der Vorgänger und ein klassisches Online-Rollenspiel; in den Details hingegen sieht man ein feinsinnig geführtes Skalpell, das alles wegschneidet, was ein Online-Rollenspiel langweilig macht. Es gibt zum Beispiel keine Zwangspausen – niemand muss nach einem Kampf minutenlang warten, bis der Avatar seine Kraft wiedergefunden hat. Wege zwischen einzelnen Punkten auf der Karte sind selten zu lang: Selbst wenn jemand ans andere Ende der Welt reisen muss, ist in der Nähe mit Sicherheit ein Wegpunkt, an dem die Asura einen ihrer Teleporter aufgestellt haben.

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Dabei verpasst der Spieler aber die vielen Abenteuer, die auf dem Weg liegen. Tyria steckt voller Wunder: Auf dem Kontinent warten dichte Wälder, versunkene Städte, endlose Schneeweiten und Ruinen, die so groß sind wie Bergmassive. Im Südosten brodelt sogar ein Vulkan, im Nordwesten liegen Steppenländer. Und überall passiert etwas.

Balance

Evari sieht den Pfad hinauf, der zu schmal für weite Schritte ist. An beiden Seiten führt der Weg in die Tiefe, zurück zur Felswand. Der Wind bläst hier oben etwas stärker als im Schutz der Felswand – der letzte Weg wird schwerer, als er erwartet hatte. Vorsichtig balanciert er über den Pfad, als die Berge grollen.

Er greift seine Flinte und duckt sich. Er kennt diese Klänge – zuerst hörte er sie im Schnee von Frostgorge Sound, vor etwa einem Jahr. Da sah er, wie die Klaue von Jormag landete und gegen eine Schar anderer Abenteurer und Entdecker kämpfte. Evari griff eine Waffe und half den Verteidigern. Doch damals gab es dreißig, vierzig andere Abenteurer: Jetzt ist er allein.

Jeder für sich und alle für jeden

Soziales in Online-Rollenspielen hat Hürden, die ArenaNet aber so einfach wie elegant überspringt: Wenn ich einen Spieler in Gefahr sehe, kann ich eingreifen, ohne zu fürchten, ihm dabei um Erfahrungspunkte und Beute zu bringen. Wir beide kriegen einfach einen Anteil an der Beute. Gleichzeitig muss ich nicht erst einer Gruppe beitreten, um an Mehrspieler-Ereignissen in der Welt teilzunehmen – wenn irgendwo ein Drache landet, dann reicht es, mit anderen Spielern in seiner Nähe zu sein. Schon sind wir ein Team, das für ein gemeinsames Ziel kämpft und dem Drachen die Schuppen poliert.

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Dabei hilft, dass jeder Spieler heilen kann – entweder sich selber oder andere. Wenn einer zu Boden geht, helfen ihm zehn andere wieder hoch – ähnlich wie in einem Moshpit. Viele der Fähigkeiten haben außerdem einen Effekt, der nicht nur auf den eigenen Avatar wirkt, sondern auch für die der anderen Spieler in der Nähe: Lästiges Anvisieren von Verbündeten entfällt. In nur wenigen anderen Spielen kann der Spieler derart passiv sozial sein.

Aufschub

Evari sieht auf – das Grollen kommt nicht von einem Drachen. Am Fuß des Berges sieht er, wie eine Horde Zentauren über die Ebene rennt. Sie sind weit von ihm entfernt und haben ihn wohl kaum bemerkt. Er steckt die Flinte wieder weg und wagt seinen nächsten Schritt: Vorsichtig setzt der nächste Fuß auf, verliert den Halt und rutscht ab.

Zwischen Felssplittern schrammt Evari ein paar Schritte hinunter, bis er mit seinen Stiefeln bremsen kann und auf einem kleinen Vorsprung landet. Sein Herz klopft. Wie dumm! Jetzt muss er einen anderen Weg finden, um zur Bergspitze zu kommen.

Eine Utopie

Zu Beginn darf der Spieler seinen Avatar aus den Reihen von fünf verschiedenen Völkern wählen. Die leben alle zusammen, trotz ihrer unterschiedlichen Hautfarben, Geschlechter, Körpergrößen, Behaarung und politischer Gesinnung: Ein klares “Gut gegen Böse”-Bild existiert nur gegenüber den untoten Horden von Oberdrache Zhaitan. Viele der Völker Tyrias hingegen haben einen freien Willen und damit die Fähigkeit, selber ihre Seite zu wählen. Das ist trotz bunter Farben sehr nah an alltäglichen Grauzonen – und für einen Fantasy-Kontinent sehr fortschrittlich.

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Doch so viele kleine Schritte Guild Wars 2 auch geht, der ganz große Sprung bleibt aus. Tyria ist eine Welt der Ladebildschirme, die manchmal etwas mechanisch wirken kann. Auch blöd: Der Großteil der Geschichte kann der Spieler alleine durchspielen, doch für das Ende muss er vier andere Spieler finden, die ihm helfen. Das spiegelt zwar Geschichte und Grundgefühl der Welt wieder, ist aber nicht für jeden Spieler spannend.

Auf dem Gipfel

Endlich hat Evari es geschafft – er sitzt auf dem Gipfel des Berges und kann auf das Tal hinabsehen. Seine Muskeln schmerzen, sein Herz klopft, doch er ist zufrieden, denn ein weiteres Abenteuer ist bestanden. Er atmet den Wind ein und neigt seinen Kopf in den Himmel. Er könnte schwören, in diesem Moment die Melodie zu hören, die er schon am Beginn seiner Reise vor über einem Jahr hörte.

Doch da mischt der Wind ein anderes Geräusch hinzu: Stiefel. Jemand rennt und hüpft, und es kommt näher. Evari fährt herum und sieht, wie ein dürrer Mann mit schwarz-grüner Kleidung und Haarsträhne vor dem linken Auge über den Pfad hüpft, als wäre es ein Kinderspiel. Über seinem Kopf stehen Buchstaben: BloodSadness15. Seltsame Namen haben Abenteurer heute, denkt Evari. Dann bleibt BloodSadness15 neben ihm stehen, sieht ihn an und springt vom Vorsprung hinaus in die Tiefe. Wie gesagt: Das Abenteuer wartet überall.

 

Über Christoph Volbers

Christoph hat viel zu viele Töpfe am Kochen: Er ist der Kopf hinter dem Science Fiction-Metal-Projekt Xenogramm und schreibt an seinem eigenen Roman. Gleichzeitig studiert er Englisch und Geschichte im schönen Bremen (nicht lachen!). Da er jedoch nicht immer vor dem Bildschirm hocken kann, geht er arbeiten - und zwar in einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen. Wenn er sich davon erholen will, dann kocht er, oder er geht laufen, oder er sieht sich Filme und Serien an. Oh, und offenbar schreibt er auch für krautgaming. Wie konnte ich das nur übersehen?

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