Shenmue I & II: Die epische Schnitzeljagd

Shenmue I & II: Die epische Schnitzeljagd

von am 05.09.2018 - 14:49
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Als Shenmue am 01.11.2000 erschien, brach ein Sturm der Begeisterung unter Spielern und Fachpresse aus. Durch eine (für die damalige Zeit) fast schon unglaubliche Technik, wie auch einer spannenden und gefühlvoll erzählten Geschichte, gelang es Produzent und Autor Yu Suzuki ein Meisterwerk zu schaffen, das bis heute von Fans verehrt wird. Doch woher kommt diese Begeisterung? Und kann das mittlerweile fast 18 Jahre alte Spiel auch nach heutigen Maßstäben noch überzeugen?

Der aufgestaute Hype

Als Shenmue das Licht der Welt erblickte war ich gerade mal 14 Jahre alt. Zu dieser Zeit schnellte der Konsolenkrieg in ungeahnte Höhen und als Schüler mit begrenztem Budget durchforstete ich die Fachmagazine auf der Suche nach Antworten. Mit welcher Konsole würde ich die nächsten Jahre verbringen? SEGAs Dreamcast war seit einem Jahr auf dem Markt und in wenigen Wochen würde die PlayStation 2 erscheinen. Darüber hinaus zeichneten sich auch Microsofts und Nintendos neue Konsolen bereits am Horizont ab. Mit solch vielfältigen Möglichkeiten vor Augen fiel die Wahl natürlich schwer.

Und dann sah ich die Kritiken zu Shenmue. Da war die Rede von unglaublicher Technik, einer einzigartigen, lebendigen Welt, tollen Charakteren und einer intensiven Geschichte, die im Zusammenspiel beinahe jede Wertungsskala sprengten. Dabei war es egal, welches Magazin ich las, sie alle waren sich einig und vergaben Top-Wertungen. So hätte mich beinahe ein einziges Spiel zum Kauf einer Dreamcast bewogen. Doch stattdessen wartete ich ab und entschied mich letzten Endes doch für den Gamecube. Ich habe den Kauf nie bereut, war mir aber bewusst, dass ich mit Shenmue eines der Highlights der Spielegeschichte verpasst hatte.

Gestatten, Ryo Hazuki, BÄM!!!

 

Umso mehr freute ich mich nun auf den Release von Shenmue 1&2. Endlich würde ich die Gelegenheit haben diese Titel nachzuholen! Dennoch erfasste mich eine gewisse Unruhe, während das Spiel auf meiner Xbox One installierte. Würde Shenmue, nach fast 18 Jahren des aufgestauten Hypes, meinen Erwartungen gerecht werden? Würde ich ein grandioses Abenteuer erleben, wie es sich mein 14-jähriges Ich erträumt hatte. Oder stand meinen Hoffnungen eine Bruchlandung in der Realität bevor?

Vorsprung durch Technik?

Man kann über die Geschichte und Charaktere von Shenmue sagen was man will, aber letzten Endes war das Spiel vor allem wegen seiner technischen Aspekte für viele ein Augenöffner. Das virtuelle Yokusaka, in dem der erste Teil spielt, überraschte anno 2000 mit seinem realistisch ablaufendem Tag/ Nacht Zyklus, wechselndem Wetter und einer bis dato ungekannten Detailtiefe. Dazu wurde die japanische Metropole von einer Vielzahl Bewohnern bevölkert und mit allen konnte man sich, voll synchronisiert, unterhalten. So betrachtet, etablierte Shenmue viele Spielelemente, die sich so inzwischen in den meisten, modernen ‚Open World‘-Titeln wiederfinden.

Besser als jede Lootbox! Gachapon-Automaten finden sich fast überall

 

Blickt man sich aber heutzutage in Yokusaka um, fallen vor allem die vielen grob aufgelösten Texturen ins Auge. Passanten spazieren eher hakelig animiert durch die oftmals grauen Straßenzüge und die viel gelobten, lebensechten Gesichter der Charaktere wirken häufig eher wie starre Masken. Zwar hat der Titel für diese Neuveröffentlichung ein paar dezente optische Upgrades spendiert bekommen, doch weder HD-Rendering, noch Bloom Effekte oder das 16:9 Bildformat können das wahre Alter des Titels verbergen.

Dennoch muss man sagen, dass die verbesserte Optik dem Spiel natürlich zugute kommt. Ganz wagemutige Spieler können die zusätzlichen Grafikoptionen aber auch komplett ausschalten und das Spiel in seinem ursprünglichen Zustand genießen.

Die Läden haben feste Öffnungszeiten, kommt also ja nicht zu spät!

 

Auch der Sound muss, angesichts heutiger Betrachtungsweisen, Federn lassen. So leisten die Synchronsprecher zwar verdammt gute Arbeit, dennoch klingen die Dialoge oftmals kratzig und blechern. Zudem ist die allgemeine Soundabmischung eher schlecht gelungen, wodurch die Klangkulisse oftmals viel zu laut und Dialoge viel zu leise sind. Glücklicherweise lässt sich dieser Umstand durch Anpassung im Optionsmenü etwas entschärfen.

Doch versteht mich hier bitte nicht falsch. Shenmue mag hinsichtlich der Technik inzwischen hoffnungslos veraltet sein, dennoch gelingt der Kulisse auch heute noch das Kunststück, eine faszinierende und glaubwürdige Welt zu erschaffen. Allerdings muss man sich auf die Darstellung einlassen können. Wem schon beim Anblick der Screenshots der Magen zu rotieren beginnt, der sollte von diesem, zig Stunden verschlingenden Ungetüm, die Finger lassen. Dafür verpasst man aber eine der spannendsten Geschichten der Videospielhistorie.

Rache!!!

Dabei ist der zugrunde liegende Plot, im ersten Moment gar nicht mal so besonders. In der Haut des 18-jährigen Ryo Hazuki müssen wir mit ansehen, wie unser Vater und Meister (der Kampfkünste, was denn sonst?), vor unseren Augen ermordet wird. Natürlich schwört Ryo, als typischer, von Stolz und Ehre durchtränkter Held, Rache am Mörder seines Vaters. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn der fiese Schurke namens Lan Di ist nicht nur ein Meister der Kampfkunst, sondern inzwischen auch schon über alle Berge verschwunden. Ryos einzige Hinweise sind die sonderbare Kleidung des Mannes, sowie die Farbe des Fluchtautos.

An dieser Stelle werden wir in die weitläufige Spielumgebung geworfen und müssen Lan Dis Spur aufnehmen. Wir befragen also zuallererst die Nachbarn, ob sie denn etwas verdächtiges gesehen haben, wobei Ryo jegliche hilfreiche Information in seinem Notizbuch niederschreibt. So folgen wir also einem Hinweis nach dem anderen (Shenmue spielt im Jahre 1986, da war googeln noch keine Option). Dabei müssen wir mal eine Person finden, ein anderes Mal einen speziellen Ort, und manchmal gilt es auch ein bestimmtes Objekt zu beschaffen. Dabei sind die verfügbaren Hinweise recht vage, wodurch tatsächlich ein wenig Detektivarbeit gefragt ist.

Kommt man einmal gar nicht mehr weiter, lohnt sich ein Besuch bei der Wahrsagerin, die uns mit nützlichen Tipps und Hinweisen versorgt.

Alle wichtigen Hinweise werden in Ryos Notizbuch vermerkt

 

Gerade zu Beginn, gibt das Spiel noch ein sehr gemächliches Tempo vor. So erforschen wir im Einstieg eher kleinere Gebiete und finden heraus, wie wir uns mittels Wegweisern und (stationären) Karten orientieren können, bevor wir in größere Areale entlassen werden.

Wobei es nicht die schiere Größe der Spielwelt ist, die einen fast erschlägt, sondern die Tiefe. Beinahe jeder Laden, jede Bar oder sonstiges Etablissement kann betreten werden. Objekte, wie beispielsweise die Auslagen eines Supermarktes dürfen oftmals in die Hand genommen und eingehender betrachtet werden. So lassen sich in Ryos Heim wirklich alle Schubladen und Schränke öffnen. Ja sogar Bilder lassen sich von der Wand nehmen, um zu sehen, ob sich etwas dahinter befindet.

Also, die erste links, dann beim Blumenladen rechts und… ähh

 

Doch kommen wir wieder zurück zur Geschichte. Wie auf einer gewaltigen Schnitzeljagd folgt Ryo also Hinweis um Hinweis. Dabei trifft er auf allerhand freundliche, sowie auch zwielichtige Gestalten. Diese Charaktere erweitern nicht nur die Handlung um neue Facetten, sondern stehen auch oftmals im direkten Verhältnis zu Ryo und verleihen dem Protagonisten in den Dialogen zusätzliche Charaktertiefe. Und auch das Abenteuer selbst gewinnt, durch zahlreiche neue Verstrickungen, immer weiter an Tiefe.

Typisch Ryo, versprüht Charme ohne Ende…

Staplerfahrer Ryo schlägt sich durch!

Eine weitere Besonderheit von Shenmue ist, dass wir unseren Helden den lieben langen Tag begleiten. Vom morgendlichen Weckerklingeln, bis wir spät abends wieder zu Bett gehen. Im späteren Verlauf steht sogar der regelmäßige gang zur Arbeit auf dem Plan. Da dabei die Zeit niemals still steht, sollte man bei der Tagesplanung auch immer die aktuelle Uhrzeit berücksichtigen. Ansonsten verpasst man vielleicht den letzten Bus, oder steht vor verschlossenen Türen. Was lapidar klingt, kann nämlich im schlimmsten Fall dazu führen, dass man wertvolle Zeit verliert und vielleicht am nächsten Tag noch einmal ins selbe Areal reisen muss.

Staplerfahrer Ryo bei der Arbeit. Und das auch noch ohne Helm! Für die Sicherheitsunterweisung war wohl keine Zeit…

 

Zudem kommt es hin und wieder vor, dass man auf ein bestimmtes Event warten muss. Soll heißen, in regelmäßigen Abständen gilt es Zeit totzuschlagen. Zu diesem Zweck, haben die Entwickler jede Menge Beschäftigungsmöglichkeiten (oftmals in Form von Mini-Spielen) in die Spielwelt eingebaut. Wie wäre es also mit einem Abstecher in die Spielhalle? Hier kann man, neben einigen klassischen SEGA Games, auch eine Runde Dart zocken. Wem hierbei der Nervenkitzel fehlt, darf sein Glück auch an einem der zahlreichen Glücksspielautomaten versuchen. Das Angebot an Dingen, mit denen man sich fernab der Geschichte beschäftigen kann, ist wirklich nicht ohne. Dennoch entsteht hin und wieder ein gewisser Leerlauf, der zwar verschmerzbar ist, dem Spielerlebnis aber dennoch schadet.

Nach der Schufterei gibts die Kohle bar auf die Kralle. Das waren noch Zeiten!

 

Von der freien Erkundung und gelegentlichen QuickTime-Events (die hier übrigens stellenweise recht fordernd sind) einmal abgesehen, werdet ihr auch recht viel Zeit mit dem Kampfsystem verbringen. Und das klingt zumindest auf dem Papier schon mal recht ordentlich. Ryo erlernt im Laufe des Abenteuers, neue Kampftechniken. Diese kann er durch Training oder direkte Anwendung im Kampf weiter verbessern. Gekämpft wird dabei, ähnlich wie in einem Prügler, über einfache Tastenkombinationen, die Spezialangriffe oder Kombos auslösen.

Ryos Kampftechniken lassen sich bequem im Menü einsehen

 

Allerdings werden hierbei nicht alle Moves sauber von der Steuerung erkannt. Noch schlimmer ist, das dies während den ersten zwei Dritteln der Spielzeit kaum ins Gewicht fällt, da hier noch simples Buttonmashing reicht, um die Gegner auf die Bretter zu schicken. Und selbst wenn man versucht die gelernten Techniken einzusetzen, stört oftmals die eher schlecht platzierte Kamera.

Vier gegen einen?! Kein Problem, solange die Kamera mitspielt

 

Und apropos Steuerung: Obwohl die Kontrollen zumindest Ansatzweise an moderne Verhältnisse angepasst wurde, fühlt sich das ganze noch zu sehr nach der typischen Resident Evil Panzer-Steuerung an. So bleibt man, selbst wenn man Ryos Wendekreis von gefühlten zwei Metern richtig einschätzt, trotzdem ständig an Wänden oder anderen Passanten hängen. Dies stört vor allem in Shenmue 1, da man sich hier häufiger durch enge Räume bewegen muss.

Eine Reise für Genießer

Ihr merkt es schon, für sich genommen können die einzelnen Aspekte von Shenmue heutzutage nicht mehr ganz überzeugen. Zusammengenommen ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Shenmue ist unkonventionell, sehr japanisch und braucht recht lang (für viele sicher zu lang) um in Fahrt zu kommen. Doch hat man sich erst einmal an das Setting, sowie die Eigenheiten des Spiels gewöhnt, geht es plötzlich Schlag auf Schlag. Man beginnt mit Ryo mitzufiebern, während sich die Hinweise auf Lan Di langsam verdichten. Auch die gut gemachten und hoch frequentierten Zwischensequenzen spitzen sich immer weiter zu, so dass vor allem zum Ende hin enorme Spannung aufkommt. Die Regie leistet dabei ganze Arbeit und an einigen Stellen fühlte ich mich sogar an das gute alte Actionkino der 80er Jahre erinnert. Meinen Geschmack hat diese epochale Schnitzeljagd, trotz einiger Stolpersteine, jedenfalls absolut getroffen.

Fast so cool wie Stapler fahren!

 

Da ich in diesem Review versuche Spoiler weitestgehend zu vermeiden, hier nur ein paar kurze Anmerkungen zum zweiten Teil. Dieser knüpft nahtlos an die Geschehnisse des Vorgängers an (man kann sogar die Speicherdaten aus Teil 1 übertragen) und spielt sich insgesamt recht ähnlich. Natürlich ist die Spielwelt noch größer, die Geschichte länger und es gibt zahlreiche neue Beschäftigungsmöglichkeiten und Mini-Spiele. Darüber hinaus wurde die Steuerung etwas komfortabler gestaltet und es ist nun möglich, in Gesprächen aus unterschiedlichen Themen zu wählen. Letzten Endes macht Shenmue 2 also genau da weiter, wo Shenmue 1 aufgehört hat und vertieft dieses Erlebnis nochmals. Ich kann es jetzt jedenfalls kaum noch erwarten bis der dritte Teil erscheint!

Wohin die Reise wohl noch führt?

Fazit

Shenmue I&II

von am 05.09.2018

Nach all den Jahren ist von Shenmues technischem Glanz nicht mehr allzu viel übrig, wodurch die schwächen des Titels umso mehr auffallen. Nichtsdestotrotz kann die detaillierte Spielwelt auch heutzutage noch faszinieren. Die Mischung aus Adventure, Prügelspiel und Lebens-Simulator (wenn man so will), geht trotz Steuerungsproblemen voll auf und entwickelt sich zu mehr als der bloßen Summe ihrer Teile. So werden geduldige Spieler in ein epochales und enorm umfangreiches Abenteuer gesogen, dessen Geschichte sich allerdings erst mit der Zeit so richtig entfaltet.

Grafik – 75

Sound – 76

Gameplay – 78

Spieldesign/Spielwelt – 95

Spielspaß/Atmosphäre – 94

 

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