Eine Ode an das Sommerloch

Eine Ode an das Sommerloch

Es hat unseren werten Kollegen Mark Hinkel genauso hart erwischt wie uns alle. Mark ist unerwartet ins Sommerloch gerutscht, jenem mysteriösen Phänomen, welches uns jedes Jahr wieder überrascht. Es ist die Zeit in der irgendwie nichts gutes mehr da ist, was gespielt werden kann.

Wer hat eigentlich dieses Sommerloch erfunden? Warum ist die Industrie der Meinung, es sei nicht nötig außerhalb des Weihnachtsgeschäftes brauchbare Spiele zu veröffentlichen?  Sind die Herren Spieleentwickler denn ernsthaft der Überzeugung, der aufrechte Zocker würde die unerträglich heiße Jahreszeit lieber damit zubringen über pollenverseuchte Wiesen zu hüpfen oder den weißlich schimmernden Bierbauch in algenverpesteten Badeseen zu wälzen als gemütlich im abgedunkelten Zimmer zu sitzen und, den Ventilator auf Hochtouren, ein prickelndes Kaltgetränk griffbreit, seinem Lieblingshobby und Lebensinhalt zu frönen?

Ob wegen der Hitze einiger Gehirnzellen verlustig gegangen oder aufgrund nun beinahe vierwöchigen Entzugs erwähnenswerter  Videospielkost der geistigen Unzurechnungsfähigkeit nahe – jedenfalls deutlich verwirrt und überfordert sitze ich mit der kläglichen Ausbeute meines verzweifelten Beutezuges in der nicht klimatisierten S-Bahn auf dem Weg nach Hause. In der hübsch bedruckten Tüte des Videospielehändlers meines Vertrauens befinden sich in Ermangelung besserer Alternativen:

1. Eine, immerhin kostengünstige, Lizenzverwurstung eines einfallslosen aber umso erfolgreicheren Animationsfilmes mit dem, nichts Gutes verheißenden USK 0-Siegel auf der kitschig bunten Verpackung.

2. Ein nun schon seit gut zwei Jahren in allen Ländern der Welt außer unserem erhältlicher, indizierter Shooter, in dessen Genuss ich aus unerfindlichen Gründen bis Dato nicht gekommen bin.

Während vor dem Fenster des mobilen Brutkastens der Münchner Verkehrsgesellschaft  blühende Bäume, plätschernde Bäche, und an den Haltestationen Heerscharen halbnackter, widerlich ausgelassener minderjähriger Mädchen vorbeihuschen, mir der Schweiß in dicken Tropfen von den Augenbrauen rinnt und mein Gesäß allmählich mit dem roten Plastik der Sitzgelegenheit verschmilzt entwickle ich zusehends Sympathie für Mr. Burns und stelle mir vor, mit einem riesigen Schild die Sonne zu verdunkeln und so diesem alljährlich wiederkehrendem Leid ein für allemal ein Ende zu setzen.

Als meine Sonnenverfinsterungsfantasien gerade im imaginären Zünden einer gigantischen Rakete gipfeln holt mich ein nur zu bekanntes Geräusch in die Realität zurück: ein leises, aggressives Schmatzen, verursacht vom schnellen Lösen der Zungenspitze vom vorderen Gaumen, wie es gerne von halbsenilen, verwitweten Frauen jenseits der 120 verursacht wird, um ihrem Unmut über die mangelnde Rücksicht der degenerierten Jugend Ausdruck zu verleihen. Den Kopf träge vom Fenster abwendend mache ich die Geräuschquelle aus: Mir schräg gegenüber, nur wenige Zentimeter zwischen meinem rechten und ihrem linken Knie, sitzt eine geschätzt 1,10m große, alte, verrunzelte Schachtel, das schüttere Haar pink getönt, die brüchigen Nägel der Knochigen von lilanen Adern durchzogenen Hände krampfhaft in eine geschmacklos geblümte Handtasche gebohrt, die Augen im wie vor Entsetzen erstarrten Gesicht starr auf meinen beschuhten, auf der gegenüberliegenden Sitzfläche geparkten Fußes geheftet.

„Tz“

*geräuschvolles, empörtes Schnaufen*

In einer kurz aufflackernden Anwandlung von Großmut und Rücksicht ziehe ich für einen Bruchteil von Sekunden in Erwägung, meinen blitzend sauberen Schuh mit einer entschuldigenden Geste von dem vor Dreck starrenden Sitz zu entfernen, komme jedoch sofort wieder zu mir und fische gemächlich, ohne meine Sitzposition zu verändern meinen iPod aus der Hosentasche, schiebe den Regler am Kopfhörer zum oberen Anschlag, kippe mir die Sonnenbrille vom Kopf auf die Nase, schließe die brennenden Augen und drücke auf Play.

Als ich einen Sekundenschlaf später die Augen wieder öffne durchfährt mich ein Schreck. Die halbverweste Querulantin hat Verstärkung bekommen. Mir gegenüber und unmittelbar neben mir sitzen nun zwei, lediglich am leicht anderen Rosaton der Haare unterscheidbare, synchron zischende und schnaufende, meinen Fuß anstarrende alte Schachteln.  Mit einem Blick aus dem Fenster überschlage ich die Zeit, die es noch gilt diese Situation zu ertragen, resigniert und mit einem Seufzer schließe ich wieder die Augen.

Ich denke mich in goldene Zeiten zurück, als man noch genügsam und jedes neu erstandene Spiel ein kleines Heiligtum war, das erst nachdem auch das letzte Geheimnis erkundet und der letzte Gegner besiegt war den Weg ins wie ein Schatz gehütete Archiv seliger Erinnerungen fand. Verfügte man alsdann nach unermesslichen Entbehrungen, erniedrigenden Anflehen der Eltern um Taschengelderhöhung und eine Festivität wie Weihnachten oder Geburtstag später über ausreichend Kapital um in ein neues Spiel zu investieren, hatte der Gang zum heiligen Händler so garnichts gemein mit dem heutigen, übersättigten Konsumverhalten. Zu Hause wurde die Zimmertür verschlossen,  die Vorhänge zugezogen und dann die neue Errungenschaft andächtig betrachtet. Der Duft frischen Plastiks… Das Glänzen der in Zellophan verschweißten Verpackung… Sodann, nach dem behutsamen Öffnen der erste Höhepunkt: Das ausführliche Durcharbeiten des daumendicken in hochglänzenden Farben, liebevoll gestalteten Handbuches. Ein letztes sammelndes Innehalten, bevor man das angenehm schwere Modul in den bereitstehenden Schacht einrasten ließ…

*TZ!* *Schnauf!*

Ich öffne die Augen. Ich sehe die beiden ekligen Alten in unveränderter Pose. Ich spüre die klägliche Ausbeute meiner Einkaufstour in der Tüte auf meinem Schoß. Ich denke an die Köpfe der Spieleindustrie, die glauben besser zu wissen als ich wann und was ich spielen will. Ich denke an skandalheischende Berichte im öffentlich rechtlichen Fernsehen über gefährliche Spiele und deren Konsumenten. Und ich schreie in Gedanken:

„Ihr ********* alten, ******** Weiber! Ihr wollt einen degenerierten Jugendlichen? Da habt ihr euren degenerierten Jugendlichen!“

Mit diesen Worten würde ich einer der Spielepackungen aus der Tüte nehmen, sie öffnen, ein Din A4 großes glänzendes Poster entfalten, mit der hundertfach vergrößerten, detailgetreuen Darstellung eines amtlichen Headshots, die Kugel noch nicht ganz im Knochen des Schädels verschwunden, eine leuchtend rote Blutfontaine mit kleinen Stückchen von Hirn und Gedärm und es, gleich einem gleißenden Schild den beiden entgegenhalten, welchen daraufhin das Zischen und Schnaufen im Halse steckenbleiben und zu einem erstickten, nach Luft japsenden Gurgeln würde, beide sprängen sie auf, nur um sofort wieder zurückzusacken, die zitternden Hände an den Brustkorb gepresst, eine würde leblos zusammensacken, die andere heiser um Hilfe rufend den Gang entlang humpeln…

Unauffällig, mich verstohlen umsehend, hole ich eine der Verpackungen aus der Tüte und öffne sie. Die Blue-Ray fällt mir entgegen, mitsamt einigen Zacken der zerbrochenen Aufhängung. In der Klappe befindet sich ein kleiner Flyer mit veralteten Produkthinweisen in schwarzweiß, auf den wenigen Bildern kaum etwas zu erkennen.

Ich erinnere mich an die stolze Ankündigung eines großen Publishers, man wolle Verantwortung übernehmen und um der Klimaerwärmung entgegenzuwirken fürderhin auf aufwendige Begleithefte zu Spielen verzichten.

„Vielleicht“ denke ich „vielleicht wissen sie doch besser als ich, was ich will.“

Herzlichen Dank an Mark Hinkel (@gegenspieler via Twitter) für diesen Gastbeitrag.

Kommentare

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Mark 16. August 2010 um 13:51 16.08.2010 - 13:51

Ups! Wie ist denn das hier rein gekommen?

noobykiller 10. August 2010 um 02:25 10.08.2010 - 02:25

wie der mark immer zeit für so geile kreative beiträge findet

aber jetzt kommt ja bald mafia und dann ürgendwann medal of honor cod usw usw

Kevin 10. August 2010 um 02:02 10.08.2010 - 02:02

Schöner Gastbeitrag Mark *thumbs up*